Anlässlich des Artikels „Unter diesem Himmel“, SZ, S.3, Freitag, 18.September, sechs Tage nach dem Mord von Solln
Der Abschnitt über die Zivilcourage ist irgendwie zu kurz gekommen. Man kann es nicht oft genug sagen.
Bevor der Kurs beginnt: Stellt euch vor, dass wäre euer Vater/Sohn/Onkel/Nachbar/Freund/Verwandter gewesen, der da letzten Samstag am Boden auf dem Bahnsteig in Solln lag und an seinen inneren Verletzungen gestorben ist.War er ja nicht? Was wenn er es das nächste Mal ist? Wie sollten sich die „Zeugen“ verhalten?
1. „Ich kenn den doch gar nicht“
Nach einer Theorie kennt man jeden Menschen in dieser Welt über maximal sieben Ecken. Es gibt keinen Menschen, vor allem kein Menschenleben, das uns nichts angeht.
Wegschauen? Auf der Autobahn glotzt ihr doch auch so gerne, wenn ein Unfall passiert ist. Oder wo kommen sonst die Staus auf der Gegenfahrbahn her? Interessiert es euch da, ob ihr das Opfer kennt?
Im Internet könnt ihr gar nicht genug Menschen eure Freunde nennen, selbst wenn ihr nicht mal ihren richtigen Namen kennt. Ihr chattet stundenlang mit jemandem, der eine völlig andere Person sein könnte, und in der Realität könnt ihr euch einreden: Der geht mich nix an!
2. Was kann ich allein schon ausrichten?Das hat man ja bei Dominik Brunner gesehen!
Zunächst einmal ist der Mut zu würdigen, den Dominik Brunner an den Tag gelegt hat. Und jedem, der diesen Vorfall als Entschuldigung für sein eigenes Nix-Tun benutzt, ist zu wünschen, dass ihm das nie selbst passiert. Und wenn doch: dass dann viele Menschen anwesend sind, die sich das Verhalten von Dominik Brunner zum Vorbild nehmen und IRGENDETWAS tun.
Denn genau darum geht es doch: IRGENDETWAS tun. Es gab um die 15 Augenzeugen. Was war mit denen los?
Es ist davon auszugehen, dass allein vier Personen genügt hätten, um zwei Jugendliche zurückzuhalten.Zur Not hätte aus der Entfernung schreien geholfen. So blöd das klingt: Act Crazy! Unerwartetes Verhalten kann Täter irritieren: Am leichtesten ist nunmal lautes Schreien!
Man sollte die Menschen um einen herum ansprechen und mit diesen gemeinsam den Jugendlichen mitteilen, dass die Polizei verständigt ist und gleich vor Ort sein wird. Das kann man auch aus einiger Entfernung tun. Aber wer weiß: Vielleicht wäre genau die kurze Zeit Ablenkung nötig gewesen, um den tödlichen Tritt zu verhindern. Ein geschlossenes Auftreten wirkt abschreckend.
Außerdem bleibt da immer noch: Handy raus, Polizei und Krankenwagen anrufen! Das ist das Mindeste!
3. Die Notrufsäule war kaputt. Ich habe kein Handy.
Fragen!
Kann jemand die Polizei rufen? Hat jemand schon die Polizei gerufen?
Wenn man öfters in der S-Bahn fährt, kommt einem diese Ausrede am lächerlichsten vor.
Denn das ist doch schon der KLassiker: Klingelton hier, Jamba dort, Dinge,die man von seinem Sitznachbarn nie erfahren wollte…
4. Ich habe ja gar nicht gesehen, was da vorgeht!
Ein Mann liegt am Boden und andere treten auf ihn ein. Muss man dazu wirklich mehr sagen?
Und sollte die Situation unklar sein, gilt wieder: aus der Entfernung kann man das vermeintliche Opfer mal rufen: Ist alles okay bei Ihnen? Die Reaktion müsste schon einiges zeigen. Weitere Alternative: weitergehen und dann aus größerer Distanz die Situation beobachten. Sobald es zu Gewalt kommt, die in 2 aufgeführten Schritte anwenden:Polizei und Krankenwagen rufen, Leute um sich herum ansprechen und gesammelt näher an den Ort des Geschehens gehen und versuchen in Kontakt zu treten.
5. Da waren andere viel näher dran als ich!
Und, tun die was? Oder gucken die weg?
Hingehen! Reden! Aufrütteln!
Oft reicht es, wenn einer den ersten Schritt macht! Das ist dann wie ein Schneeballsystem!
6. Ich wollte nix Falsches machen!
In diesem konkreten Fall von Solln: Was genau hätte man tun können, das den Ausgang noch verschlimmert hätte? Das Opfer ist tot. Unter der Voraussetzung, das man sich nicht selbst in Gefahr begibt, was hätte man falsch machen können?
7. Welche andere Ausrede auch immer
Es ist davon auszugehen, dass die Menschen, die dort am letzten Samstag in Solln waren, ihr ganzes Leben daran erinnert werden, dass sie einen Menschen mit auf dem Gewissen haben.Wer sich sicher sein kann, alles Nötige versucht zu haben, wird mit so einem Erlebnis normal weiter leben können. Außerdem: Beim nächsten Mal könnte man es selbst sein!
Wer nichts tut, wird Mittäter! Das sollte einem bewusst sein.
Dominik Brunner hat alles richtig gemacht. Nur ist er vermutlich davon ausgegangen, dass mehrere Menschen auf dieser Welt so couragiert sind wie er und hat sich deswegen sicher gefühlt, nicht allein, am hellichten Tag. .